Wie gefährlich ist die Polizei?

Weil sie kaum etwas zu befürchten haben, machen manche Polizisten, was sie wollen – mit Billigung der Bevölkerung.

Ende August, Basler Viaduktstrasse: Peter York* hat sich zum fünften Hochzeitstag mit seiner Frau zum Essen verabredet und fährt mit seinem Velo Richtung Markthalle. Als er eine Polizeikontrolle erblickt, macht er kehrt: sein Velo (ein so genanntes Fixie) hat keine Bremsen. Er will eine Busse vermeiden.

Die Polizei nimmt die Verfolgung auf und schneidet ihm den Weg ab. Einer der Beamten sprüht dem 31-jährigen Engländer, der in Basel als Architekt arbeitet, Pfefferspray ins Gesicht. Ein anderer, so beschreibt York bei «20 Minuten» die Auseinandersetzung, reisst ihm die Arme auf den Rücken. York, immer noch auf dem Velo, fällt zu Boden, verliert einen Zahn. Er wird auf den Asphalt gedrückt, ein Beamter schlägt ihm ins Gesicht. Im Spital wird ihm ein Telefongespräch verweigert. York beschwert sich. Daraufhin entfernen die Polizisten ihre Namensschilder. York erhält für dieses Verhalten nie eine Entschuldigung, im Gegenteil: Die Polizei reicht gegen ihn Strafanzeige ein. Der Fall ist hängig, die Schuldfrage für die Eskalation ungeklärt.

Police fire tear gas. Image source: Wikipedia

Police fire tear gas. Image source: Wikipedia

Fusstritte eines «ehrenhaften Polizisten»

Eine an sich harmlose Begegnung mit der Staatsgewalt kann schnell ausser Kontrolle geraten. Polizeibeamte sind verpflichtet, Gewalt gegen Bürger auf das notwendige Minimum zu beschränken. Seit Jahren bemängeln Nichtregierungsorganisationen und internationale Menschenrechtsgremien, dass unabhängige Beschwerde- und Untersuchungsverfahren für Fälle von mutmasslich übertriebener Polizeigewalt in der Schweiz fehlen. «Die Problematik der exzessiven Gewaltausübung betrifft alle Polizeikorps der Schweiz. An die Öffentlichkeit gelangen nur wenige Einzelfälle, und es ist anzunehmen, dass die Dunkelziffer hoch ist», schreibt Humanrights Schweiz Ende August in einer Mitteilung.

Grund für die Mitteilung ist ein Fall von Polizeigewalt, der diesen Sommer für Aufsehen sorgte.

In der Nacht auf den 3. Juni 2013 machen sich in einem Luzerner Uhrengeschäft Einbrecher zu schaffen. Die Polizei fährt vor und stellt die mutmasslichen Täter. Eine Überwachungskamera filmt, was dann passiert: Ein Luzerner Elite-Polizist traktiert mit vorgehaltener Schusswaffe einen bereits am Boden liegenden Einbrecher gezielt mit fünf Fusstritten gegen den Kopf. Am 24. Juni schaut sich der Kommandant der Luzerner Kantonspolizei das Video an. Doch erst am 15. Juli wird der Elite-Polizist, gegen den bereits in einem anderen Fall eine Anzeige läuft, vom Dienst suspendiert. Am 21. August macht das TV-Magazin «Rundschau» den Fall publik. Dabei wird bekannt, dass die Luzerner SP-Polizeidirektorin Yvonne Schärli eine Untersuchung einleiten liess. Der damit beauftragte Berner Oberrichter Peter Sollberger kommt darin zum Schluss, dass der Luzerner Polizeikommandant Beat Hensler mit «unangemessener Milde» auf die exzessive Polizeigewalt reagiert hat. Eine der Sofortmassnahmen, die Sollberger von der Luzerner Polizei verlangt, lautet: «Bei grundloser Gewalt gegen Wehrlose soll in Zukunft eine Null-Toleranz-Doktrin gelten». Darauf müsste die Öffentlichkeit eigentlich mit der bangen Frage reagieren: War das bisher anders?

Der Rechtsstaat? Zählt offenbar nichts mehr

Doch die Öffentlichkeit stellt sich auf die Seite des Polizisten, zumindest in Online-Kommentaren: «Ich möchte diesem Polizisten recht herzlich gratulieren für seine Verhaftung», schreibt ein User im Forum des Schweizer Fernsehens, und ein anderer: «Ich stosse an auf den ehrenhaften Polizisten!» – Amtsmissbrauch? Selbstjustiz? Für eine Mehrheit scheint das kein Thema zu sein.

Die SRF-Onlineredaktion sieht sich gezwungen, aufgrund der Leserreaktionen einen Artikel aufzuschalten: «Die meisten Online-Kommentatoren haben eine klare Haltung zum Schockvideo: Sie verteidigen die Fusstritte des Polizisten. Soziologen orten ein mangelndes Bewusstsein für Rechtsstaatlichkeit». Ein User schreibt: «Schockierend ist nicht nur die abscheuliche und völlig sinnlose Gewalt, schockierend ist auch die Erkenntnis, dass es viele Schweizer Bürger gibt, die ein solches Vorgehen der Polizei auch noch unterstützen!»

Die neue Schnoddrigkeit der Staatsgewalt

Die Polizei ausser Kontrolle, den lautstärkeren Teil der Bevölkerung hinter sich wissend – das begünstigt, wenn auch nicht empirisch, so zumindest episodisch belegbar, eine gewisse Unverfrorenheit der Staatsgewalt im Umgang mit Kritik.

Als die «Basellandschaftliche Zeitung» nach dem umstrittenen Polizeieinsatz an der diesjährigen Art Basel den Polizeikommandanten Gerhard Lips in einem Interview zum Thema Polizeigewalt befragt, sagt der salopp: «In den 80er-Jahren wurde eine ganz andere Gewalt angewendet. Da hat die Polizei Übergriffe gemacht, die nie an die Öffentlichkeit kamen.» Als Ende August publik wird, dass die Stadtpolizei Zürich 2006 eine verwirrte Seniorin mit einer Elektroschockpistole ruhig stellte, um sie in eine Klinik zu überführen, sagt der Zürcher Polizeisprecher Mario Cortesi, die Stadtpolizei habe den Einsatz nachträglich geprüft – «er war regelkonform, verhältnismässig und einsatztaktisch richtig.» Anders schildert es der beteiligte Psychiater: «Ohne den Taser wäre der Einsatz ruhiger und menschlicher abgelaufen – und vor allem weniger lebensgefährlich.» Die Beamten seien von dieser psychiatrischen Situation völlig überfordert gewesen, «von bedächtigem Abwägen keine Spur». Untersucht wurde der Fall nie. Das Ritual ist immer das Gleiche: Cortesi spricht seine Sätze ins TeleZüri-Mikrofon – und abgeschlossen ist der Fall.

Hinter der Mauer des Schweigens

Polizeibeamte sind grossem Stress und Gefahren ausgesetzt, aber sie sind auch mit maximaler Macht ausgestattet. Polizisten repräsentieren das staatliche Gewaltmonopol, sie sind bewaffnet und jeder Bürger muss ihren Anweisungen Folge leisten. Um die polizeiliche Anwendung von Gewalt zu reglementieren, gelten deshalb strenge Vorschriften. Kommt es aber trotzdem zu Übergriffen, fehlen unabhängige Untersuchungsstellen, wie sie zum Beispiel Grossbritannien kennt. Wie oft Polizeibeamte ungerechtfertigt oder mit unangemessener Härte gegen unschuldige Bürger oder bereits wehrlos festgesetzte Kriminelle vorgehen, ist deshalb weitgehend unbekannt.

Die einzigen verlässlichen Zahlen, die dazu im deutschsprachigen Raum vorliegen, stammen aus dem deutschen Bundesland Baden-Württemberg. Laut polizeiinternen Befragungen aus den Jahren 1998 und 2001 waren dort 25 Prozent der Beamten der Meinung, ab und zu sei es durchaus akzeptabel, mehr Gewalt anzuwenden als erlaubt. Und sechs von zehn Polizisten gaben an, auch gravierende Übergriffe von Kollegen würden nicht immer angezeigt. Tobias Singelnstein, Professor für Strafrecht an der freien Universität Berlin, hat Fälle von Polizeigewalt systematisch untersucht. In einem Aufsatz schreibt er: «Dass sich Polizisten finden, die gegen die eigenen Kollegen aussagen, kommt so gut wie nie vor». Es werde eine «Mauer des Schweigens» aufgebaut, die einem falschen «Korpsgeist» geschuldet sei.

In seiner Untersuchung findet Strafrechtler Singelnstein auch Gründe, warum «die feine Linie zwischen noch angemessener und exzessiver Gewalt» bei Einsätzen immer wieder mal überschritten wird: Die Sozialisierung der Polizeibeamten führe im Laufe der Jahre zu einer Vermischung von staatlichem Auftrag und persönlichem Interesse. Gewalttätige Polizisten sehen sich «in der vordersten Front im Kampf gegen die Kriminalität und das darin zum Ausdruck kommende gesellschaftliche Chaos». Diese Selbstwahrnehmung führe dazu, dass nicht mehr die geltenden Vorschriften, sondern die eigenen Handlungen als erlaubt aufgefasst werden. «Legalität wird durch Legitimität ersetzt», schreibt der Strafrechtsprofessor.

Verfahren gegen Polizisten brauchen einen langen Atem

Vergleichbare Untersuchungen in der Schweiz existieren nicht. Allerdings es gibt keinen Grund, davon auszugehen, dass die Situation in der Schweiz besser wäre. Beispielhaft ist der Fall des Pressefotografen Klaus Rózsa, der am 4. Juli 2008 bei einem Polizeieinsatz gegen Besetzer des Zürcher Hardturmstadions verhaftet und dabei verletzt wird. Rósza erstattet Anzeige, die Polizei ebenfalls. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren gegen die Polizei wegen Amtsmissbrauch, Nötigung, Freiheitsberaubung und Körperverletzung ein. Rósza hingegen verurteilt das Bezirksgericht wegen Gewalt und Drohung gegen zwei Stadtpolizisten sowie mehrfacher Hinderung einer Amtshandlung. Erst das Obergericht hebt das Urteil gegen Rósza auf – die Personenkontrolle eines Journalisten sei «nicht angebracht» gewesen. Und das Bundesgericht hebt die Einstellung des Verfahrens gegen die Polizisten auf und weist die Staatsanwaltschaft an, entweder einen Strafbefehl zu erlassen oder die Untersuchungsergebnisse zu ergänzen und Anklage gegen die Stadtpolizisten zu erheben. Ein Erfolg für Rózsa und die Pressefreiheit – der allerdings einen langen Atem brauchte.

Mitte Februar 2005, St. Gallen: Michael Gabathuler* wird kurz nach 23 Uhr von der Polizei verhaftet und dabei so schwer verletzt, dass er mit der Ambulanz ins Spital eingeliefert werden muss. Laut Arztbericht erleidet er einen Nasenbeinbruch. Gabathuler reicht Strafanzeige gegen die Polizeibeamten ein. Weil sich die Aussagen der Polizeibeamten und des Festgenommenen diametral widersprechen, eröffnen die Untersuchungsbehörden «mangels Anhaltspunkten» kein Strafverfahren. Daraufhin reicht Gabathuler beim Bundesgericht eine staatsrechtliche Beschwerde ein, die gutgeheissen wird. Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass die Behörden den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine vertiefte Untersuchung nach Art. 3 und 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt haben. Das Gericht bemängelte, dass die kantonalen Behörden darauf verzichtet hatten, Zeugen einzuvernehmen und die Unterlagen des Kantonsspitals beizuziehen.

Ein Fehler im System

Für das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) zeigt der Fall exemplarisch den mangelnden Rechtsschutz gegen polizeiliche Übergriffe in der Schweiz. Eine Studie von Jörg Künzli, Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern, belegt das Problem. Demnach bestehen in der Schweiz «im Bereich des Rechtsschutzes im Zusammenhang mit Polizeigewalt teilweise strukturelle Defizite», die sich «trotz wiederholter Empfehlungen verschiedenster nationaler und internationaler Gremien» in den letzten Jahren kaum verändert haben. Die Unabhängigkeit einer Strafuntersuchung sei in den meisten Kantonen nicht gewährleistet, weil die Strafuntersuchung «durch die Polizei oder die Staatsanwaltschaft durchgeführt» wird, so die Studie.

Gestützt werden fehlbare Polizeibeamte von einem Fehler im System: Die Staatsanwaltschaft, die übertriebene Polizeigewalt ahnden sollte, ist gleichzeitig auf die Arbeit der Polizei angewiesen. Polizisten ermitteln für sie und treten in Verfahren oft als zentrale Belastungszeugen vor Gericht auf. Bereits im Jahr 2001 zeigte sich der internationale Menschenrechtsausschuss «tief besorgt», dass in zahlreichen Kantonen unabhängigen Instanzen fehlen, die für Strafklagen und Beschwerden gegen Polizeigewalt zuständig sind. 2009 wiederholte der Menschenrechtsausschuss seine Besorgnis und forderte die Schaffung unabhängiger Mechanismen in allen Kantonen. Eine Lösung wären Sonderstaatsanwälte, die nicht mit dem Justizapparat verbandelt sind. Die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) weigert sich bisher, auf das Thema einzugehen. Immerhin sind in mehreren Kantonen und Städten parlamentarische Ombudsstellen entstanden, so in den Kantonen Zürich, Basel-Stadt, Baselland, Waadt und Zug sowie in den Städten Zürich, Bern, Winterthur und St. Gallen.

Der jüngste Fall: An der «Tanz dich frei»-Demonstration am 21. September in Winterthur geht die Polizei massiv gegen die überwiegend friedlichen Demonstranten vor. Eine junge Frau wird von einem Gummigeschoss ins linke Auge getroffen und erblindet fast. Der Sehkraftverlust auf dem verletzten Auge beträgt über 80 Prozent. Der Sehnerv wird für immer geschädigt bleiben. Die zuständige Winterthurer Polizeidirektorin Barbara Günthard-Maier geht auf Tauchstation, die Polizei verspricht «rigorose Aufklärung». Die junge Frau hat sich einen Anwalt genommen. Die Staatsanwaltschaft Zürich schaltet sich ein und verlangt Aufklärung. Und wen beauftragt sie mit der Untersuchung? Die Stadtpolizei Zürich. Einmal mehr: Polizei untersucht Polizei. Mit Konsequenzen müssen die Beamten kaum rechnen – mit Applaus des Mobs in den Kommentarspalten dürfen sie.

*Namen geändert

Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors

Keine. Der Artikel erschien zuerst im aktuellen Strassenmagazin «Surprise», erhältlich beim Strassenverkäufer Ihres Vertrauens.

– By Christof Moser

*Source: Infosperber.ch

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