Städte und Orte sind im ständigen Wandel und werden zu Zentren für unterschiedliche Traditionen, Kulturen und Erfahrungen. Welchen Beitrag Migration für Urbanität und Bildung leistet, untersucht Professor Erol Yildiz am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Innsbruck.
Das Wort „Migration“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet Bewegung, (Aus-) Wanderung und Umzug. „Man bewegt sich von A nach B – das gab es immer und wenn man Migration auch historisch betrachtet, dann sieht man, dass die Bewegung von Menschen immer der Normalfall war und nicht die Ausnahme“, erläutert Erol Yildiz seine Grundannahme. „Ich verwende gerne die Begriffe ‚sesshafte Mobilität’ oder ‚mobile Sesshaftigkeit’, denn sie beschreiben unsere gesellschaftliche Situation am treffendsten“, so Yildiz. Der Wissenschaftler ist davon überzeugt, dass Zuwanderung wesentlich zur Urbanisierung beiträgt: „Wenn Menschen von außen kommen, bringen sie neues Wissen mit, von dem andere und der Stadtteil, in den sie ziehen, profitieren können.“
Schulen bilden Vielfalt
„Urbanisierung lebt von der Vielfalt und die kommt interessanterweise oft von außerhalb“, macht Yildiz bewusst. Die Schule sei als Ort besonders prädestiniert für einen Dialog und ein Miteinander von Kulturen. Der Bildungswissenschaftler weist darauf hin, dass an kaum einem anderen Ort so viele unterschiedlich kulturell geprägte und von vielfältigem, gesellschaftlichem und sozialem Wissen beeinflusste Kinder aufeinander treffen. „Dies hat noch gar nichts mit Migration zu tun. Jedes Kind bringt sein eigenes Wissen in den Unterricht mit, das sich dann mit jenem der Mitschülerinnen und Mitschüler vermischt“, so Yildiz. Der Wissenschaftler sieht dies als eine große Chance für das Bildungs- und Schulwesen: „Ich nenne das gerne so, dass wir auf eine diversitätsbewusste Bildung hinarbeiten müssen.“ Die Schule sei demnach, unabhängig von Migration, täglich mit Diversität konfrontiert und müsse darauf reagieren. Bildung heißt für Yildiz nicht nur schulisches Wissen zu erarbeiten sondern er ist der Ansicht, dass Bildung auch an anderen Orten und im Austausch zwischen Menschen stattfinden kann. „Ich meine damit informelle Bildung“, so der Wissenschaftler. Damit ist jene Bildung gemeint, die abseits des Klassenzimmers stattfindet. Lernen in den verschiedensten Lebenszusammenhängen prägt die Bildung der Kinder und Jugendlichen ebenso wie das Wissen, das sie in der Schule erwerben. Diese nichtformale Bildung trägt laut Yildiz einen wesentlichen Teil zur Entwicklung kultureller oder urbaner Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern bei. Eine Aufgabe des Bildungswesens sei es, auch diese Ressourcen für die Gestaltung von Bildung zu nützen. Ein Beispiel aus seinen Gesprächen mit Lehrenden ist Yildiz besonders im Gedächtnis geblieben: „Ein Hauptschuldirektor erzählte mir, dass einmal eine chinesische Schülerin ohne Deutschkenntnisse an seine Schule wechselte. Zum Glück gab es in der Klasse bereits ein anderes Mädchen chinesischer Herkunft, das ihr sprachlich zur Seite stand. Mit ihrer Hilfe konnte sich die Neue schnell in den Schulalltag einleben. Dieser Schuldirektor sah grundsätzlich die Vorzüge von Diversität in seiner Schule.“
Jeder kommt von außen
Der Professor für Bildungswissenschaften betont, dass Menschen immer schon auf Wanderschaft waren – und dies aus den unterschiedlichsten Gründen. „Forscht man selbst in seinem eigenen Stammbaum nach, dann lassen sich ganz sicher bei jedem und jeder Vorfahren finden, die von woanders hergekommen sind“, so Yildiz. Kultur sei ein dynamischer Prozess, im Grunde also immer „transkulturell“. Migration sei nur ein Element unter vielen, das zu diesem Prozess beiträgt. Das hat Yildiz selbst in seiner Studienzeit auch im Kölner Alltag beobachtet: „Als ich zu Beginn der 80er Jahre nach Köln kam, war es in der Gastronomie, außer in Biergärten, nicht üblich, draußen zu sitzen. Italiener haben beispielsweise angefangen, die Stühle ihrer Cafés auf die Straße zu stellen, so wie man es aus dem mediterranen Kulturraum kennt. Spaziert man heute durch Köln, dann kommt man kaum an einem Café vorbei, in dem die Gäste nicht im Freien Platz nehmen können. Heute würde man dort sagen das sei ‚kölsch’.“ Impulse kommen von außen und werden in die tägliche Lebenswelt übernommen. Die Wahrnehmung der Einheimischen ändert sich und schon bald werden solche Neuerungen als alltäglich und normal angesehen. „Insofern ist Transkultur immer auch ein Bestandteil der Alltagskultur“, so Yildiz. Einhergehend mit seiner Annahme, dass jeder „von außen“ kommt, weist er darauf hin, dass die Begriffe „Stadt“ und „Migration“ nicht voneinander getrennt werden können, denn nur durch die Bewegung von Menschen konnten Städte überhaupt erst wachsen. „Wien hatte um 1800 etwa 200.000 Einwohner und Einwohnerinnen und Anfang des 20. Jahrhunderts wuchs die Zahl auf über zwei Millionen – die Hälfte davon waren Zuwanderer. Sie alle sind zu Wienern geworden“, konkretisiert der Forscher.
Ein Schnitzel vom Inder
Yildiz plädiert für einen unverkrampften Blick auf Urbanität und Migration. „Ein wissenschaftlicher Auftrag, den wir auch an uns selbst richten, ist jener, dass wir versuchen, Darstellungen aus den Medien zu entdramatisieren.“ Ein pragmatischer Umgang mit Migration und Diversität im Alltag sei unumgänglich. Yildiz beschreibt eine Situation, die er in Klagenfurt beobachtet hat. „In der Stadt gibt es ein Wiener Kaffeehaus, das von außen zwar ein bisschen kitschig ausschaut, in dem aber traditionelle Gerichte serviert werden. Ich war neugierig auf das Lokal, in dem viele ältere Kärntnerinnen und Kärntner saßen. Das Interessante an diesem ‚Wiener Kaffeehaus’ ist, dass der Besitzer aus Indien stammt“, erzählt der Wissenschaftler. Diese Konstellation eines Inders, der sich entscheidet, in Klagenfurt ein Wiener Kaffeehaus zu führen, fand er interessant. In einem Gespräch beschrieb der Besitzer seine pragmatische Sicht der Situation: „Er erzählte mir, dass der vorherige Betreiber des Cafés den Betrieb aufgegeben hat, was er besonders schade gefunden habe. Daraufhin entschloss er sich kurzerhand, das Lokal selbst zu übernehmen“, berichtet Yildiz. „Jetzt brät ein Inder das Wiener Schnitzel – vielleicht mit ein paar indischen Gewürzen drauf. Die Kärntnerinnen und Kärntner haben sich schon daran gewöhnt.“ Wäre dieser Mann nicht, dann würde das Café möglicherweise leer stehen. Für den Wissenschaftler ist es wichtig, den Menschen einen pragmatischen Umgang mit Migration im Alltag zu vermitteln und zu betonen, dass Bewegung schon immer dazu gehörte: „Man kann auch sagen, das ist das Leben.“
Zur Person
Univ.-Prof. Dr. Erol Yildiz ist in Samsun an der türkischen Schwarzmeerküste geboren und aufgewachsen, bevor er 1982 nach Köln zog, um dort Pädagogik, Soziologie und Philosophie zu studieren. Im Jahr 2005 habilitierte er sich dort in Soziologie. Erol Yildiz war Gastprofessor in Hamburg und Luxemburg, bevor er nach Österreich kam. Besonders interessiert er sich für Interkulturelle Bildung, Migration und Diversität sowie für Stadt und Urbanität. Blickwinkel zu weiten und offen zu sein für Neues, ist für Yildiz besonders wichtig. „Es geht ja alles um Bewegung.“
Dieser Artikel ist in der Juni-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version ist hier zu finden (PDF).
*Source: Universität Innsbruck