Bald laufen wir mit «Google-Brillen» herum

Parallel zur staatlichen breitet sich eine private Überwachung grossen Stils aus. Widerstand scheint aussichtslos. (Teil 2)

Red. In einem ersten Teil befasste sich der Autor mit staatlichen Überwachungsdiensten und den möglichen Folgen für demokratische Gesellschaften. Der zweite Teil zeigt auf, welche Rolle dabei die digitale Technologie und das Internet spielen.

Zur neuen Entwicklung gehört, dass es neben der staatlichen Tätigkeit immer mehr auch Private sind (Einzelpersonen, Agenturen, Detektivbüros, Sicherheitsfirmen, privatwirtschaftlichen Unternehmen), die andere überwachen oder überwachen lassen, so dass man sagen kann, dass nach dem englischen Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588-1679) der Mensch nicht nur des Menschen Wolf, sondern auch dessen Grosser Bruder und Datenspeicher ist.

Im Unterschied zur staatlichen Überwachung, die unter Umständen demokratisch kontrolliert und selbst überwacht werden kann, ist das bei den privaten Detekteien und Branchendiensten, die für ihre Auftraggeber zum Beispiel Kunden, Mieter, Arbeitnehmer oder Patienten auskundschaften, kaum der Fall.

Big Data is Big Business

Auch deshalb kann es ausgeschlossen werden, weil das Data Mining sich längst zu einem lukrativen ökonomischen Bereich entwickelt hat. Big Data ist Big Business. Schon 1972 hatte Marshall McLuhan, der kanadische Medienwissenschafter, vorausgesehen, die neueste menschliche Beschäftigung werde im elektronischen Zeitalter die Überwachung sein. «Spionage in Lichtgeschwindigkeit wird zum grössten Geschäft in der Welt werden», sagte er damals. Wahrhaftig eine visionäre Prognose.

Neue Geschäftsbereiche entstehen. Ein Beispiel ist die Google-Brille, mit der es möglich ist, beinahe unbemerkt vom Gespräch, das ich mit einer Person führe, eine Filmaufnahme zu machen. Wird die Google-Brille mit dem Netz verbunden, kann ich mir zusätzliche Informationen über die Person beschaffen, mit der ich es zu tun habe. Die Angaben erscheinen dann auf einem im Gestell eingebauten Mini-Display. Es ist leicht vorauszusehen, dass die Google-Brille zum neuen Hype und Verkaufsschlager werden wird.

Mein Regenmantel ist ein anderes Beispiel. Nicht nur kann er den Regen voraussagen, sondern unter Umständen auch die Situation erkennen und kommunizieren, die ich antreffe, wenn ich ein einen fremden Raum trete. Die Technik wird als Kleidung portabel sein. Nochmals ein ökonomischer Sprung. Es würde zur neuen Besonderheit der Überwachungsmaschine gehören, schrieb Frank Schirrmacher, «dass Überwachung zum ökonomischen Rational schlechthin wird»

Google Glass. Author: Antonio Zugaldia (Image source: Wikipedia)

Google Glass. Author: Antonio Zugaldia (Image source: Wikipedia)

Sich in Unschuld nicht betroffen fühlen, ist naiv

Wenn alle Menschen dem grossen Zentralauge unterworfen sind, ist dann die Überwachung nicht an ihr Ende gekommen? Wenn alles überwacht wird, was gibt es dann noch zu tun?

Eine abwegige Überlegung. So verhält es sich nicht. Nie wird es genug Überwachung geben, immer werden noch subtilere, noch performativere Methoden dafür entwickelt und eingesetzt werden, so lange, bis die reale Welt in einer kompletten digitalen Kopie in den Speichern nachgebildet worden ist. Aber auch das wird den paranoiden Datenfanatikern nicht reichen, um ihre Gier zu stillen. Mal sehen, was noch kommt.

Naiv wäre es anzunehmen, dass es genügt, wenn ich weiss, dass ich mir nichts zu Schulden kommen gelassen habe. Erstens sind wir alle verdächtig, alle Opfer des Datenhungers, alle Zappelnde im Netz. Zweitens trägt jeder in seinem Leben etwas mit sich, das er vorteilhafterweise verschweigt, vielleicht eine vorübergehende finanzielle Schwierigkeit, vielleicht eine Krankheit, die seine berufliche Beförderung nachteilig beeinflussten könnte.

Vermutlich kann auch gesagt werden, dass die Überwachungs-Vorkehrungen heute der Sicherheit und dem Schutz vor Terroranschlägen dienen, aber was ist morgen? Der Kampf gegen den Terror ist heute, aber wie geht es weiter, wenn der letzte «unlawful combattant» (ungesetzliche Kämpfer) von einer amerikanischen Drohne eliminiert worden ist?

Terrorismus ist ein diffuser Begriff, mit dem sich vieles einpacken lässt. Was werden wir morgen unter diesem Wortlaut verstehen? Vielleicht den zivilbürgerlichen, ökologisch motivierten Widerstand gegen die Ausbeutung von Rohstoffen in naturgeschützten Gebieten als Verstoss gegen kapitalistische Interessen?

Eine solche Perspektive erscheint eher unwahrscheinlich, aber woher sollen wir es genau wissen? Niemand hat in der Vergangenheit an den pädophilen Phantasien von Daniel Cohn-Bendit Anstoss genommen. 40 Jahre später hat ihn die Vergangenheit eingeholt. Genau so kann morgen ganz anders beurteilt werden, was heute als selbstverständlich und richtig angesehen und nicht hinterfragt wird.

Druck zur Konformität

Bisher haben die Überwachungsdispositive nachweislich zu einem nivellierenden Konformitäts- und Korrektheitsdruck geführt. Durchschnittsverhalten erzeugt und stabilisiert sich selbst und lässt keine Ausnahmen zu, und Vorstellungen von Korrektheit haben eine normierende Wirkung. Was aber kann als Normalverhalten angesehen werden, was als abweichendes Verhalten? Sollte Anpassung statt freier Meinungsvielfalt zur Regel werden und Korrektheit zur Zensur, hätten wir es mit einer sozialen Pathologie zu tun, die kein wünschenswertes Ziel ist.

Alle dystopischen Romane verurteilen jede Form von Individualismus als Abweichung und damit als asozial: von Evgenij Samjatins «Wir» über Aldous Huxleys «Schöne neue Welt» bis George Orwells «1984» und Ray Bradburys «Fahrenheit 451». Individuelle Freiheitsrechte und «the pursuit of happiness» waren zwei der weitsichtigsten politischen Forderungen, die der Philosoph des entstehenden Bürgertums, John Locke (1632-1704), und die Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) aufgestellt haben. In allen Diktaturen werden sie als suspekt verfolgt und unterdrückt.

In Samjatins Roman wird ein chirurgischer Eingriff erfunden, um die Phantasie der Untertanen wegzuoperieren und sie in ihrem Denken willen- und widerstandslos zu machen. Die Häuser sind aus Glas gebaut, zum Zweck der Transparenz. Niemand entgeht dem grossen Speicher. Manchmal wird die Gleichschaltung mit exzessivem Konsum revanchiert. Wenn nicht, wird das Hungern für den Grossen Führer zur staatlichen Treuepflicht ausgerufen.

Bespitzelung schon verinnerlicht

Heute geben wir unsere kleine persönliche Freiheit zu Gunsten einer totalen Sicherheit auf, aber morgen wird uns nicht einmal diese Sicherheit garantiert werden. Und doch hat um ihretwillen eine Mehrheit der Menschen die Bespitzelung verinnerlicht und akzeptiert. Soweit haben wir uns schon an die bürokratische, das heisst digital verwaltete Welt angepasst. All dies geht unmerklich vor sich und fällt kaum auf. Bis es zu spät ist.

Eine nachrückende Generation ist mit Facebook und Smartphone aufgewachsen, hat ihre Identität auf dem Bildschirm gefunden und kann sich nicht vorstellen, wie die Menschen früher ohne diese im Sinn von Sigmund Freud und Marshall McLuhan verstandenen Prothesen ausgekommen sind.

Neue Verhaltensweisen und Wertvorstellungen haben sich herausgebildet, die alten, gesellschaftlichen Ideale sind überflüssig, also eigentlich liquidiert geworden. Manchmal zu schnell. Die Karriere ist wichtiger, das Einkommen, die Kaufkraft, die Gesundheit, die neuen Apps. Die hohen Roamingkosten rufen mehr Empörung hervor als die Tatsache, dass die Gespräche aufgezeichnet werden. Nach Mark Zuckerberg ist «privacy», das Privatleben, «keine soziale Norm» mehr. Im selben Mass, wie das Netz zur neuen Öffentlichkeit geworden ist, verkörpert heute die IT-Technologie den Big Brother.

Von der Gesichts- zur Gehirnerkennnung

Dies alles macht es noch einfacher als bisher, den Menschen zu durchschauen. Denn wie gesagt: Wir sind noch nicht am Ziel. Was wir im Augenblick haben, ist eine statistischmathematische Überwachung, die summarisch alle gleichermassen trifft. Aber immer noch ist der gläserne Mensch zu undurchsichtig. Heute wird die neue Runde der Überwachung des Menschen eingeläutet: die Introspektion des Menschen, der Einblick in sein Gehirn und sein Geheimstes, Verborgenstes, Allerinnerstes.

Die Google-Autoren Eric Schmidt und Jared Cohen haben in ihrem Werk über «Die Vernetzung der Welt» die hellhörig machende Bemerkung geäussert, dass die Biometrie das grosse Problem der Zukunft sein wird. Die Gesichtserkennung ist schon weit fortgeschritten. Mit Iris und Papillarleisten laufen wir als unsere eigene Registratur durch die Welt.

Daneben arbeitet auch die Neurologie mit Hochdruck an neuen Methoden, um bis in die innersten, persönlichsten Bereiche des Menschen zu dringen und seine heimlichsten Gedanken aufzuspüren, aufzudecken, zu analysieren, zu definieren und ans Licht zu ziehen. Zum Beispiel soll herausgefunden werden, welche Partien des Gehirns bei bestimmten Reizwörtern aktiviert werden. Dies alles natürlich ausschliesslich zum Wohl des Menschen, zum Beispiel, um Krankheiten zu kurieren. Dafür hat die EU dem «Human Brain Project» der Ecole Polytechnique Fédérale in Lausanne eine Milliarde Euro zur Verfügung gestellt.

Schon im Jahr 2007 hat der «New Scientist» vor einer weltweiten Gen-Datenbank gewarnt. Das heisst, dass die Idee damals längst geboren war und früher oder später realisiert wird. Mit den Yottabytes wird es kein Ding der Unmöglichkeit sein, acht, neun, zehn Milliarden Menschen zu datieren.

Widerstand scheint hoffnungslos

So unabsehbar die Folgen sind: Sicher ist nur, dass der zuerst radiografierte und danach disponibel gemachte Mensch das Ziel aller dieser Bestrebungen ist und jeglicher Widerstand dagegen zwecklos erscheint.

Machen wir uns nichts vor. An der eingeschlagenen Entwicklung etwas korrigieren zu wollen, ist aussichtslos, weil das System sich autonom gemacht hat. Wie gesagt: It has arrived. Früher konnten wir uns gegen Menschen wehren. Sich heute gegen Maschinen wehren zu wollen, ist absurd. Sie funktionieren nach ihrer eigenen Logik, Gesetzmässigkeit und Immanenz, und sie tun es unerbittlich, als geschlossene Kreisläufe, in die niemand eindringen und die niemand unterbrechen kann, etwa wie beim High Frequenzy Trading an der Börse.

Genau dagegen müssten wir ankämpfen. Aber wie? Auf die politische Einsicht und Vernunft setzen? Das ist Illusorisch.

Ein neues Internet-Völkerrecht durchsetzen? Durch wen? Die verfügbaren Daten allen zugänglich machen? Das würde alles nur verschlimmern.

Das Netz ist kein Frei-, sondern ein hermetischer Kontrollraum. Die panoptische Gesellschaft ist immer straffer strukturiert. Jawohl, wir sitzen in der Falle. Jawohl, die Vergangenheit ist vorbei, die lustvolle Agitation, der Widerstand. Wir leben in einem digitalen Alptraum, in dem wir uns komfortabel eingerichtet haben. Der Vorhang ist gefallen. Ende der Vorstellung. Rien ne va plus.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf OnlineReports.

– By Aurel Schmidt

*Source: Infosperber

Zum ersten Teil: «Überwachung kann Richtung Totalitarismus abgleiten»

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