Mit einem Blatt Papier zum Titel: DLR-Luftfahrtforscher Kai Wicke

Er ist Deutscher Meister im Papierfliegerweitwurf und flog im Segelflugzeug schon hoch über Australien. Früh entdeckte der passionierte und wettbewerbserfahrene Segelflugpilot seine Liebe zum Sport und zur Fliegerei. Heute erforscht Kai Wicke, wie sich die Flugzeuge von Morgen in den Flugbetrieb und das vielschichtige Lufttransportsystem einfügen.

Mit seiner großen Statur, seinen freundlichen Augen und dem kräftigen Kinn ist Kai Wicke gut in einer Menschenmenge auszumachen. Ein Lachen blitzt über sein Gesicht, als ich ihn in einem Hamburger Café treffe, gefolgt von einer entspannten Begrüßung. Er ist extra aus Hamburg-Harburg angereist. Dort, im Hamburger Süden, arbeitet Kai Wicke als wissenschaftlicher Mitarbeiter der DLR-Lufttransportsysteme.

Segelfliegen in der Junioren-Nationalmannschaft

Ohne lange wählen zu müssen, bestellt er seinen Kaffee, Latte machiato tall. Er ist leger gekleidet: Hemd, schwarzer Pullover, Jeans. Am linken Arm trägt er eine Fliegeruhr mit Metallarmband. Schon früh kam Kai Wicke zur Fliegerei. Noch früher entstand seine Begeisterung für alles Fliegende über Dächern, Bäumen und Feldern, beginnt er zu erzählen. Eines Tages sagte ein Arbeitskollege seines Vater: “Mensch fahr doch mal hoch zum Segelflugplatz mit Deinem Sohn.” Da war Kai Wicke 15 Jahre alt. “Am nächsten Tag habe ich gleich angefangen”, lächelt er. Mit 17 hält er seinen Luftfahrtschein in den Händen. Er macht sein Sportabitur und trainiert dafür Speerwerfen und Stabhochsprung. Und immer wieder Segelfliegen in der Freizeit. Er fliegt bei den Deutschen Meisterschaften und qualifiziert sich für die Junioren-Nationalmannschaft. Im Trainingslager in Südfrankreich geht es für ihn ganz hoch hinaus. Mit Sauerstoffmaske und Genehmigung der Flugsicherung steigt Kai Wicke bis in über 6000 Meter Höhe mit seinem Segelflugzeug auf. Was sich so besonders anhört, erzählt er bescheiden. “Teilweise habe ich acht Stunden und 800 Kilometer ohne Pause im Segelflugzeug zurückgelegt.”

Kai Wicke an seinem Arbeitsplatz. Image credit: DLR

Kai Wicke an seinem Arbeitsplatz. Image credit: DLR

Nach der Schule folgt für den Segelflugenthusiasten eine ganz besondere Zeit bei der Bundeswehr. Nach der Grundausbildung wird er in die dortige Sportfördergruppe für Segelflieger aufgenommen und reist zu Wettbewerben in ganz Europa und schließlich nach Australien. Drei Monate bleibt er dort mit seinen Kameraden, mit denen er die einzige ausländische Mannschaft stellt. Ein Erinnerungsfoto zeigt ihn zusammen mit einem Australischen Farmer nach einer Außenlandung auf rotem Sand. Auch seine berufliche Laufbahn hat er zu dieser Zeit schon fest im Blick: “Luft- und Raumfahrttechnik in Berlin studieren, das war mein Traum.” Dafür zog Kai Wicke anschließend aus dem idyllisch ländlichen Hofgeismar von der Mitte der Republik in die Hauptstadt und schrieb sich an der Technischen Universität ein.

Das große Ganze denken

Nach der Uni ging es 2009 für Kai Wicke von Berlin nach Hamburg. Mit Freude folgte er der Zusage der DLR-Lufttransportsysteme. Seit dem ist er in der Abteilung Systemanalyse Lufttransport zu Hause. “In meiner Arbeit geht es darum, dass große Ganze zu denken und auf dem Computer zu berechnen”, umreißt der 32-Jährige seine Arbeit. “Ich nehme mir neue Entwicklungen am Flugzeug vor und simuliere sie in verschiedenartigen Computermodellen im Gesamtlufttransportsystem.” Er zählt mit seinen Händen Komponenten des Gesamtsystems auf, zu dem unter anderem sämtliche Abläufe in der Luft, auf dem Flughafenvorfeld oder im Terminal gehören. Und warum diese Analyse neuer Luftfahrzeugentwicklungen im Gesamtsystem? “Wir wollen herausfinden wie sehr sich Veränderungen am Flugzeug praktisch rentieren. Etwa wieviel Treibstoff tatsächlich eingespart werden kann, wenn ein verbessertes Flugzeug unter realen Umweltbedingungen bei Fluggesellschaften eingesetzt wird.” Dabei gilt es möglichst alle auftretenden Nebeneffekte des Betriebs in die Rechnung einzubeziehen, wie zusätzliche Instandhaltung, das Verhältnis von Kurz- zu Langstreckenflügen oder die Einsparung von Emissionen jeglicher Art. Kai Wicke und seine Kollegen wollen so neuen Flugzeugentwicklungen zu einer optimalen Wirkung im Alltagsbetrieb verhelfen.

Vor dem Start auf dem Heimatflugplatz Dingel. Image credit: DLR

Vor dem Start auf dem Heimatflugplatz Dingel. Image credit: DLR

Nicht weit entfernt von seinem Hobby, der Segelfliegerei, spielt sich ein ganz konkretes Forschungsthema für den Nachwuchswissenschaftler ab. Segelflugzeuge sind schon heute mit sehr glatten Tragflächen ohne größere Spalte und Unebenheiten ausgestattet, die eine ideale turbulenzfreie Umströmung, die sogenannte Laminarströmung aufweisen. In Zukunft soll es solche glatten, widerstandsarmen Tragflächen auch für Verkehrsflugzeuge geben. Kollegen anderer Institute, besonders das DLR-Institut für Aerodynamik und Strömungstechnik, liefern konkrete Vorschläge und Entwicklungen, wie solch eine Tragfläche der Zukunft konstruiert sein könnte. Am Ende soll das Treibstoff durch die verbesserte Strömungsgeometrie und den geringeren Luftwiderstand einsparen. “Meine Aufgabe ist es zu berechnen, wie viel der Treibstoffeinsparungen und damit der Kostenreduktion im Betrieb übrigbleiben”, erläutert Kai Wicke seine Arbeit. “Beim Laminarflügel untersuche ich beispielsweise, ab welcher Streckenlänge sich ein Einsatz lohnt und welche Kosten die Reinigung der Tragflächen von Insektenresten mit sich bringt.” Dieses Phänomen kennt Kai Wicke gut. Schon oft hat er mit dem sogenannten Mückenputzer, Insektenreste während des Fluges von den Tragflächen seines Segelflugzeugs gewischt. Als Mückenputzer bezeichnet man eine Vorrichtung, mit der Piloten die vordere Tragflächenkante während des Fluges reinigen können.

Mit der richtigen Falttechnik

Einer ganz anderen Dimension motorlosen Fliegens nähert sich Kai Wicke ganz unverhofft noch zu Studienzeiten im Jahr 2006: Der Hersteller zucker- und koffeinhaltiger Limonade Red Bull schreibt zum ersten Mal eine Meisterschaft im Papierfliegerweitwurf aus. Kai Wicke interessiert sich eigentlich nicht sonderlich dafür: “Erwachsene werfen Papierflieger – das habe ich eher als Kinderkram abgetan.” Einige Kommilitonen jedoch sind ganz euphorisch und experimentieren in der Aerodynamikhalle der Berliner TU. Mit einem Schmunzeln verrät er schließlich: „Eines Tages bin ich doch einmal vorbeigegangen, hab einen Papierflieger gefaltet und geworfen. Und gleich beim ersten Mal flog er durch die gesamte Halle bis gegen die hintere Wand.“ Die Halle hat immerhin eine Länge von 22 Metern. Ein Assistent ist bereits bei der Ausschreibung angemeldet. Der sagt sofort: “Du machst da mit, du hast Chancen!”

Kai Wicke gewinnt prompt die Qualifikation. Er wirft nun in Hallen, die groß genug für sein Können sind. Für die Deutsche Meisterschaft nimmt er in der Abfertigungshalle des Flughafens Tempelhof den selbst gebastelten Papierflieger in die Hand. Mit gekonnter Technik aus seinen Speerwurfzeiten in der Schule katapultiert er das fünf Gramm leichte Fluggerät auf eine Weite von 34,82 Meter – für ihn der Titel als Deutscher Meister. Bei der folgenden WM in Salzburg schafft er es neben 48 Konkurrenten die bis heute gültige deutsche Rekordweite von 37,36 Meter zu werfen. Das ist gleichzeitig der veritable sechste Platz unter den besten der Welt.

Danach kommen die Medien: Neben Ranga Yogeshwar und Frank Elstner sitzt Kai Wicke in der Talkshow von Johannes B. Kerner. Auch Galileo und PurPlus vom Kinderkanal klopfen an. Er gibt Radiointerviews und Zeitungen zeigen sein Gesicht. Die Journalisten fragen immer wieder, wie er eigentlich auf die richtige Form seines gebastelten Fliegers gekommen ist? Bescheiden in seiner Art antwortet Kai Wicke, dass das Grundkonzept noch aus seiner Schulzeit stammt. “Vieles war aber tatsächlich ausprobieren – die Flügel mal ein bisschen kleiner falten, mal ein bisschen größer falten.” Dabei sind keine Hilfsmittel erlaubt, weder Klebstoff noch Schere. Alles was zählt ist ein einfaches Blatt DinA4-Papier und geschickte Hände. Am Ende hält er einen fast pfeilartigen Papierflieger in der Hand, den er heute sorgsam zu Hause in einer Schublade neben seinem Bett aufbewahrt. Ein paar Begriffe aus seinem Studium streut der Diplom-Ingenieur dann doch noch in seine Erklärungen: “Insgesamt kam es schon darauf an ein aerodynamisch ausgereiftes, symmetrisches Modell mit genügend Richtungsstabilität zu konstruieren.” Sein Studium ist es dann auch, das ihn 2009 bei der nächsten Meisterschaft von einer Verteidigung seines Titels abhält. Er schließt seine Diplomarbeit ab und beginnt seine berufliche Laufbahn beim DLR.
 
Arbeit für die Promotion und als Fluglehrer

Bei gutem Wetter fährt Kai Wicke meist mit dem Fahrrad zur Arbeit. Dabei kann er sich gut auf die kommenden Aufgaben des Tages konzentrieren und schon einige Ideen im Kopf durchspielen. Aktuell arbeitet er daran, letzte Ergebnisse für seine Doktorarbeit zu sammeln. Auch diese steht in Verbindung mit der Analyse des Laminarflügels im Lufttransportsystem. “Ich entwickle gerade die letzten Simulationsschritte für das nötige Computermodell”, verrät er. Nächstes Jahr will er die Promotion in der Tasche haben und sich dann neuen Forschungsfragen widmen.

Dem Segelfliegen ist Kai Wicke weiter treu. Während des Sommers fährt er bald jeden zweiten Sonntag in seine hessische Heimat auf den Flugplatz Dingel. Schon mit 21 Jahren hat er seine Fluglehrer-Lizenz erworben. Er gibt sein Wissen gerne weiter und genießt es besonders, für die begeisterten jugendlichen Pilotenanwärter da zu sein. Auch ihnen erzählt er sicher, wie er seine Liebe zur Fliegerei entdeckte und vielleicht auch die ein oder andere Anekdote zu seinem nicht ganz alltäglichen Meistertitel. Es ist ein spannender Platz neben Kai Wicke, voller ungewöhnlicher Geschichten und Einblicke. Hat er erst seinen Doktortitel, wird er auf einem Platz neben sich bestimmt auch den ein oder anderen Nachwuchswissenschaftler mit seiner ganz eigenen begeisternden Art unterrichten.

– von Falk Dambowsky

*Source: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)

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