Globale Sprachenvielfalt reflektiert die natürliche Umwelt

Linguisten der Universität Tübingen untersuchen Umweltfaktoren, die Einfluss auf die Evolution von Sprachen nehmen

Weltweit werden heute mehr als 7.000 Sprachen gesprochen. Wie es zu dieser immensen Vielfalt kam, wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Nun hat ein internationales Forscherteam untersucht, ob soziale und geografische Faktoren sowie das Klima Einfluss auf die Auffächerung von Sprachfamilien hatten.

Zu dem Team gehörten Christian Bentz und Gerhard Jäger vom Seminar für Sprachwissenschaft der Universität Tübingen, Dan Dediu vom Collegium de Lyon und dem Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen sowie Annemarie Verkerk vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena. Die Forscher untersuchten 46 Sprachfamilien im statistischen Zusammenhang mit Umwelt- und Klimadaten aus den jeweiligen Regionen. In den meisten Fällen ließ sich die Entstehung der Sprachenvielfalt nicht allein durch eine konstante Änderungsrate erklären, wie sie etwa durch Zufallseinflüsse zu erwarten wäre. Vielmehr spielen in den Weltregionen unterschiedliche Umweltfaktoren eine Rolle bei der Frage, wie schnell sich eine Sprachenlinie weiterentwickelt und wie stark sie sich verzweigt. Solche Faktoren können zum Beispiel die Größe der Bevölkerung sein, die die Sprache spricht, oder auch die Lage der Siedlungsorte. Die Studie wird in der Fachzeitschrift Nature Human Behaviour veröffentlicht.

Image credit: stokpic (Source: Pixabay)

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Sprachenvielfalt entsteht über individuelle Abweichungen im Sprachgebrauch und über die geografisch wie auch zeitlich eingegrenzte Bildung sozialer Gruppen. Soweit sind sich die Forscherinnen und Forscher einig. Doch darüber hinaus variieren die Einschätzungen stark. „Manche Linguisten betrachten Sprachenvielfalt sogar als ein Randphänomen und interessieren sich nur für den Ursprung und die Gemeinsamkeiten, die alle Sprachen vereinen“, berichten die Autoren. Andere sähen als Motor der Ausdifferenzierung vor allem zufällige Prozesse am Werk. Das Forscherteam wollte daher prüfen, ob Einflüsse der sozialen und physischen Umgebung auf die Sprachevolution messbar sind.

Komplexes Bild der Sprachevolution

Schon bei oberflächlicher Betrachtung gibt es eine ganze Palette an sprachlichen Welten: Einige Sprachen werden von mehreren Größenordnungen mehr an Sprechern genutzt als andere. Manche verbreiten sich über riesige Regionen oder ‒ wie Englisch, Spanisch, Hocharabisch und Mandarin ‒ über mehrere Kontinente“, sagen die Wissenschaftler. Das Bild werde noch komplexer, wenn man Sprachfamilien betrachte. Das sind Gruppen von Sprachen, die von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen, einer Sprache, die meist vor mehreren Tausend Jahren gesprochen wurde. „Manche dieser Ursprungssprachen explodierten geradezu in eine riesige Vielfalt von Nachfolgern und bildeten Familien mit Tausenden von Mitgliedern, die große Gebiete überspannen wie die Atlantik-Kongo-Sprachfamilie, die weite Teile von Afrika umfasst, oder die austronesische Sprachfamilie im Pazifik.“Für die aktuelle Studie sammelten die Forscher mehr als 6.000 Abstammungsbäume aus 46 Sprachfamilien. Sie wurden in ihrer Verbreitung mit geografischen Daten, der Höhe über dem Meeresspiegel, der Entfernung zu Ozeanen, Seen oder Flüssen und Klimadaten unterlegt, um potenzielle Zusammenhänge zwischen Umweltfaktoren und der Sprachenauffächerung aufzuspüren. „Kern unserer Befunde ist die Feststellung, dass ein Standardmodell der Sprachenevolution mit einer konstanten Änderungsrate die tatsächliche Entwicklung nicht abdeckt“, sagt Christian Bentz. Das Zusammenspiel von Umwelt und Sprachstrukturen sei mit dem Standardmodell nicht fassbar. „Vermutlich lässt sich auch kein Modell der Sprachendiversifikation aufstellen, das auf alle Sprachfamilien und Sprachen anwendbar wäre.“ Weltweit sei es unterschiedlich, welche Umweltfaktoren die Entwicklung am stärksten geprägt haben. „Zum Beispiel zeigt sich bei Sprachen aus afrikanischen und eurasischen Sprachfamilien eine steigende Auffächerung auf einer Ost-West-Achse, bei den Sprachen Nord- und Südamerikas dagegen von Norden nach Süden.“ Bei den sino-tibetischen und austronesischen Sprachen spielten weitere Faktoren wie Berg- oder Tallagen der Verbreitungsorte der Sprachen und die Zahl der Sprecher eine Rolle.

Beispielbäume für die Atlantik-Kongo Sprachfamilie (a) und die Sinotibetische Sprachfamilie (b). Die Einzelsprachen sind in der Karte und an den Bäumen als Punkte dargestellt. In (a) reflektiert die Farbe der Punkte den jeweiligen Längengrad (longitude), in (b) hingegen die Höhe über dem Meeresspiegel. In beiden Fällen sind diese Umweltfaktoren stark am Familienbaum reflektiert. Das sogenannte phylogenetische Signal von Längengraden in (a) und Höhe über dem Meeresspiegel in (b) ist stärker als im evolutionären Standardmodell erwartet. Das heißt, der Zusammenhang der Umweltfaktoren mit der Struktur der Familienbäume kann nicht durch zufällige Ausbreitung der Sprachpopulationen im Raum erklärt werden, sondern nur durch gezielte Migration entlang dieser geografischen Dimensionen.

Publikation:

Christian Bentz, Dan Dediu, Annemarie Verkerk and Gerhard Jäger: The evolution of language families is shaped by the environment beyond neutral drift. Nature Human Behaviour, DOI 10.1038/s41562-018-0457-6.

*Source: Universität Tübingen

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