Was beeinflusst die Entscheidung von Geflüchteten, ein bestimmtes Land als Ziel zu wählen? Eine neue Studie untersucht die Präferenzen ukrainischer Geflüchteter in Europa und zeigt, dass Arbeitsmöglichkeiten eine deutlich größere Rolle spielen als Sozialleistungen. Damit stellt die Studie gängige Annahmen über sogenannte „Sozialmagneten“ infrage, wie Erstautor Joop Adema vom Institut für Finanzwissenschaft im Interview erklärt.
Warum haben Sie sich in Ihrer Studie auf ukrainische Flüchtlinge konzentriert und warum ist deren Situation für die Untersuchung der Wahl des Ziellandes besonders relevant?

In der Grenzstadt Siret in Rumänien werden Geflüchtete von Freiwilligen der rumänischen Malteser empfangen und versorgt – Fotocredit: Simu Radu Matei/Malteser Romania (Source: Wikipedia)
Joop Adema: Zunächst einmal gibt es über fünf Millionen ukrainische Geflüchtete in der EU, EFTA und im Vereinigten Königreich. Zu verstehen, wohin sie gehen, hilft uns, Fluchtbewegungen besser nachzuvollziehen und politische Maßnahmen zu entwickeln, die mit solchen Strömen geordnet umgehen können. Ukrainische Geflüchtete befinden sich in einer besonderen Situation: Unter der EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz können sie ihr Zielland frei wählen. Für sie ist die Entscheidung also nicht durch physische oder rechtliche Barrieren eingeschränkt, wie es bei anderen Flüchtlingsgruppen in Europa der Fall ist. Daher konnten sie sich gründlich über mögliche Zielländer informieren, eine bewusste Wahl treffen und auch später in ein anderes Land umziehen, wenn sie dort bessere Bedingungen vorfanden.
Könnten Sie das Design der Studie kurz beschreiben. Wie hat es Ihnen geholfen zu verstehen, welche Faktoren für Flüchtlinge bei der Wahl ihres Zielortes am wichtigsten sind?
Adema: Idealerweise würde man die tatsächlichen Entscheidungen von Geflüchteten untersuchen, um Rückschlüsse auf ihre Präferenzen für bestimmte Merkmale von Zielländern zu ziehen. Da sich die Zielländer jedoch in zahlreichen Eigenschaften unterscheiden, lassen sich aus den beobachteten Wanderungsbewegungen keine eindeutigen Gründe für die Wahl eines Landes ableiten. Deshalb führten wir ein sogenanntes Conjoint-Experiment durch. Dabei mussten Geflüchtete zwischen zwei hypothetischen Zielländern wählen, die sich jeweils in acht relevanten Merkmalen unterschieden: Entfernung von der Ukraine, Anwesenheit von Familie oder Freunden, Sprachkenntnisse, Arbeitsmöglichkeiten, Lohnniveau, Höhe der Sozialleistungen, Höhe der Kinderbeihilfen und Mietkosten. Auf diese Weise lassen sich die ursächlichen Treiber der Zielländerwahl analysieren.
Ihre Studie zeigt, dass Beschäftigungsmöglichkeiten für Flüchtlinge bei ihrer Entscheidung wichtiger sind als Sozialhilfe. Was sollten politische Entscheidungsträger aus dieser Erkenntnis ableiten?
Adema: Unsere Ergebnisse zeigen erstens, dass eine deutliche Kürzung von Sozialleistungen die Zahl der ukrainischen Geflüchteten kaum verringern würde. Zweitens sind Beschäftigungsmöglichkeiten von großer Bedeutung: Die meisten Geflüchteten möchten nicht untätig bleiben, sondern ihren Lebensunterhalt verdienen, einen Beitrag zur Gesellschaft leisten oder Geld in die Heimat schicken.
Gab es Unterschiede in den Präferenzen zwischen Untergruppen von Flüchtlingen, beispielsweise nach Alter, Geschlecht oder Bildungsniveau?
Adema: Wenig überraschend sind Arbeitsmöglichkeiten für Menschen ab 65 Jahren deutlich weniger wichtig, während Sozialleistungen für sie eine größere Rolle spielen. Für Frauen waren familiäre Netzwerke wichtiger als für Männer. Männer wiederum bevorzugten häufiger größere Distanzen – möglicherweise, weil einige die Ukraine ohne offizielle Genehmigung verlassen hatten. Höher Gebildete unterschieden sich nur in einem Punkt von Personen ohne Hochschulabschluss: Sie bevorzugten Länder, deren Sprache sie beherrschen. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass sie häufiger in sprachintensiven Berufen tätig sind und Sprachkenntnisse benötigen, um ihrer Qualifikation entsprechend arbeiten zu können.
Welche Rolle spielten persönliche Netzwerke, wie Freunde oder Familie im Zielland, bei der Entscheidungsfindung von Flüchtlingen im Vergleich zu wirtschaftlichen Faktoren?
Adema: Dass Netzwerke bei der Wahl des Ziellandes eine große Rolle spielen, zeigt sich bei verschiedenen Migrantengruppen, auch bei anderen Geflüchteten. In unserer Studie waren sie ebenfalls wichtig, jedoch weniger entscheidend als Arbeitsmöglichkeiten. Ein möglicher Grund ist die Freizügigkeit innerhalb der EU, die es Geflüchteten ermöglicht, Verwandte in anderen EU-Ländern ohne rechtliche Einschränkungen zu besuchen – und somit den Anreiz verringert, im selben Land zu wohnen.
Sie haben festgestellt, dass Flüchtlinge sich oft in Ländern niederlassen, in denen sie bereits über Sprachkenntnisse oder Berufsaussichten verfügen. Wie könnte sich dies auf ihre langfristige Integration auswirken?
Adema: Die Tatsache, dass viele Geflüchtete Länder wählten, in denen sie die Sprache sprechen oder die sprachlich eng mit dem Ukrainischen verwandt ist, dürfte ihrer Integration zugutekommen. Studien, etwa zur Flüchtlingsmigration in der Schweiz, zeigen, dass eine geringere sprachliche Distanz stark mit einer besseren wirtschaftlichen Integration zusammenhängt (Wong, 2023). Das erklärt teilweise, warum Ukrainer relativ hohe Beschäftigungsquoten aufweisen – besonders in Ländern mit slawischen Sprachen oder dort, wo Englischkenntnisse für die Jobsuche ausreichen.
Ihre Studie stellt die Idee der „Sozialmagneten” in Frage. Wie könnte diese Erkenntnis Ihrer Meinung nach die öffentliche Debatte über die Flüchtlingspolitik verändern?
Adema: Die sogenannte Sozialmagnet-Hypothese wird häufig als Erklärung angeführt, warum großzügige Wohlfahrtsstaaten mehr Migranten anziehen, darunter auch weniger gebildete mit geringeren Arbeitsmarktchancen. Auch wenn Sozialleistungen nicht völlig irrelevant sind, spielen sie für die Zielländerwahl vermutlich eine geringere Rolle als andere Merkmale. Die politische Debatte sollte sich stärker auf die Wirkung von Sozialleistungen konzentrieren: Zwar könnten niedrigere Leistungen kurzfristig die Arbeitsaufnahme fördern, sie wirken sich jedoch negativ auf Kriminalitätsraten und die Integration von Flüchtlingskindern aus – wie jüngste Arbeiten von Christian Dustmann und anderen in Dänemark zeigen.
Sozialleistungen verursachen zudem direkte fiskalische Kosten, die man nicht vergessen darf. Um diese zu senken, könnten Länder mit niedrigen Beschäftigungsquoten unter ukrainischen Geflüchteten aktivere Arbeitsmarktprogramme einsetzen, die sich bei anderen Flüchtlingsgruppen bereits als wirksam erwiesen haben (Foged et al., 2024).
In weiteren Arbeiten dokumentieren wir, dass ukrainische Geflüchtete anfangs sehr optimistisch waren und die meisten zurückkehren wollten. Mit der Dauer des Krieges änderten viele ihre Pläne – insbesondere viele junge Ukrainer möchten inzwischen nicht mehr zurück. Das bedeutet auch, dass einige, die ursprünglich eine Rückkehr planten, zunächst nicht in Sprachkurse oder Ausbildungen investierten. Die Politik sollte sicherstellen, dass solche Qualifizierungsangebote für ukrainische Geflüchtete weiterhin angeboten werden.
*Source: Universität Innsbruck