Auf den Spuren verloren geglaubter Handschriften

Zerschnitten und in mittelalterliche Buchumschläge eingearbeitet: das ist das „Schicksal“ vieler wertvoller, jahrhundertealter jüdischer Handschriften aus Pergament. Ursula Schattner-Rieser sucht seit Jahren in Österreich gezielt nach diesen Fragmenten. Nun wurden neue Entdeckungen im Innsbrucker Stift Wilten gemacht.

Nach der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert wurde Pergament häufig als Verstärkung für Buchdeckel verwendet. Das dafür benötigte Material wurde allerdings nicht neu hergestellt: Buchbinder griffen auf bereits vorhandenes Pergament zurück und verarbeiteten lateinische, mittelhochdeutsche sowie vor allem hebräische und aramäische Handschriften. Die damaligen historischen Umstände erklären, warum diese Manuskripte überhaupt verfügbar waren. „Der Großteil dieser Handschriften wurde im Zuge von Verfolgungen von Menschen jüdischen Glaubens zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert geraubt oder konfisziert“, erklärt Univ.-Doz. Dr. Ursula Schattner-Rieser vom Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik. „Diese Materialien aus Pergament wurden für Bucheinbände verwendet, indem sie zerschnitten und häufig in mehreren Schichten und ohne Rücksicht auf Inhalt oder künstlerische Verarbeitung in die Buchdeckel geklebt wurden“. Bereits vor zwei Jahren konnte die Bibelwissenschaftlerin auf insgesamt 19 hebräische Fragmente verweisen, die durch Zufall im Zuge von Restaurierungen in Bucheinbänden aus Beständen des Tiroler Universitäts- und Landesarchives entdeckt wurden. Schattner-Rieser erhofft sich durch die Analyse dieser Schriften wertvolle Informationen über die Geschichte der Tiroler Juden in der damaligen Zeit. In den letzten Monaten konnte die Wissenschaftlerin aufgrund ihrer gezielten Suche in Tirols Archiven und Klosterbibliotheken neue Entdeckungen machen. Insgesamt 11 Funde hebräischer und aramäischer Handschriften wurden ausfindig gemacht, einer davon stammt aus der Bibliothek des Stiftes Wilten in Innsbruck. „Der Text wurde vermutlich aufgrund der vor allem religionsgeschichtlich relevanten ‘Messiasfrage’ konfisziert, die speziell im 13. Jahrhundert für das Christentum von großer Bedeutung war. Ein weiterer Grund für Konfiszierungen war die vermeintliche Blasphemie und Diffamierung Jesu in den Schriften“, beschreibt Schattner-Rieser die Besonderheiten des Fundes.

Pergament war in den Anfängen das Buchdrucks als Verstärkung von Einbänden sehr beliebt. Auch im Innsbrucker Stift Wilten wurden eingearbeitete Pergament-Blätter gefunden. Bild credit: Ursula Schattner-Rieser

Pergament war in den Anfängen das Buchdrucks als Verstärkung von Einbänden sehr beliebt. Auch im Innsbrucker Stift Wilten wurden eingearbeitete Pergament-Blätter gefunden. Bild credit: Ursula Schattner-Rieser

Wiltener Talmudfragmente

Die gezielte Recherche der Wissenschaftlerin nach Hinweisen in Katalogsvermerken und Büchern selbst führte in die Bibliothek des Stifts Wilten in Innsbruck und brachte im Einband eines lateinischen Kodex von Marienpreisungen aus dem 15. Jahrhundert drei beschnittene Pergamentblätter mit je 33 bis 38 Zeilen zum Vorschein. Inhaltlich sind sie dem Talmud, einer der bedeutendsten Schriften des Judentums, zuzuordnen. „Die Fragmente stammen aus dem babylonischen Talmud und sind dem Traktat Nedarim, der von Gelübden handelt, zuzuordnen“, verdeutlicht Schattner-Rieser. „Die Blätter beinhalten aber auch eine Passage über Krankenbeistand und Nächstenliebe sowie den Namen des Messias.“ In Fachkreisen ist dieser Fund eine Besonderheit, wie die Forscherin erklärt: „Jede Handschrift aus dem Mittelalter ist ein Unikat, aber bei den Talmudfragmenten aus dem Stift Wilten handelt es sich um besonders gefragte Fragmente, denn die Anordnung der Traktate folgt nicht dem üblichen Schema und weist viele inhaltliche Varianten auf.“ Der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen und die Vorstellung der Inhalte auf einem internationalen Kongress der European Association of Jewish Studies (EAJS) durch Schattner-Rieser im vergangenen Sommer bekräftigten die Besonderheit des Fundes. „Die Fragmente zeichnen sich durch eingefügte Glossen und Verschiebungen von Traktaten aus, darüber hinaus verfügen sie über Besonderheiten in der sprachlichen Ausführung. Sie unterscheiden sich daher von gängigen Versionen und bieten spannende und einzigartige Einblicke in spezielle Aspekte der Auslegung religiöser Inhalte oder auch gesellschaftlicher Begebenheiten der damaligen Zeit“, erklärt die Forscherin. Dank einer Förderzusage im Jahr 2013 der Abteilung für Kultur des Amtes der Tiroler Landesregierung konnte das Projekt „Mittelalterliche Hebräische Fragmente in Archiven und Bibliotheken Tirols“, ein Teilprojekt des österreichweiten www.hebraica.at-Projekts, initiiert werden und durch eine fruchtbare Kooperation mit diversen Bibliotheken und Klöstern, sowie der Unterstützung der Universität Innsbruck, weitergeführt werden.

Blick auf einen Fund im Tiroler Landesarchiv: Für den Einband eines Verzeichnis von Grundbesitzrechten wurde Pergament eines Talmuds verwendet. Das Urbar stammt aus dem Jahre 1522. (Bild credit: Ursula Schattner-Rieser)

Blick auf einen Fund im Tiroler Landesarchiv: Für den Einband eines Verzeichnis von Grundbesitzrechten wurde Pergament eines Talmuds verwendet. Das Urbar stammt aus dem Jahre 1522. (Bild credit: Ursula Schattner-Rieser)

Funde in Tirol und Südtirol

Schattner-Rieser ist auch aktuell noch weiterhin auf der Suche nach Fragmenten. In den letzten Jahren und Monaten konnte die Forscherin beispielsweise in Südtirol, in den Orten Brixen, Bruneck, Innichen-San Candido und Meran wertvolle Schriften identifizieren, auch im Tiroler Landesarchiv wurde sie auf Hinweis eines aufmerksamen Studenten fündig: „Für ein Urbar, ein altes Verzeichnis über Grund-Besitzrechte, wurde ein Pergament-Einband verwendet, der sich als Fragment des Traktats Eruvin des Babylonischen Talmuds aus dem 13./14. Jh. herausstellte.“ Und es steht außer Zweifel, dass in den zahlreichen Archiven und Bibliotheken Tirols und Südtirols weitere Pergament-Fragmente in Bucheinbänden „schlummern“. „Erst kürzlich gab es weitere Entdeckungen in der Sondersammlung der Universitätsbibliothek hier an der Uni Innsbruck”, erzählt Schattner-Rieser und verweist auf eine ihrer aktuellen Untersuchungen.

*Source: Universität Innsbruck

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