Tatortarchäologie am Gletscher

Bedingt durch den Klimawandel geben Gletscher durch deren Abschmelzen im Schnee konservierte Mumien frei. Harald Stadler, Leiter des Instituts für Archäologien an der Universität Innsbruck, freut sich darüber besonders, denn eines seiner Spezialgebiete sind Gletscherleichen mit deren Hab und Gut. Die Archäologinnen und Archäologen werden zu Komplizen der Kriminalbeamten.

„Jetzt kommen die verrücktesten Dinge zum Vorschein, die nun wissenschaftlich bearbeitet werden. Das Klima öffnet für uns einen Tresor und diese spannenden Möglichkeiten müssen wir auf jeden Fall für uns nützen. Es wird noch einiges auftauchen – und ich bin darauf vorbereitet“, schwärmt Stadler. Dass die heimischen Gletscher noch viele Fundstücke und verschollene Leichen freigeben werden, ist für den Wissenschaftler gewiss. Funde aus Nachbarländern wie der Schweiz und in Südtirol/Italien lassen auch die Archäologinnen und Archäologen in Innsbruck auf interessante Funde hoffen.

Gletscher als Zeitkapsel

Tirol zählt mit etwa 800 Kleingletschern, aufgeteilt auf unterschiedliche Bezirke, zu den gletscherreichsten Gebieten der Erde. Im Lauf der letzten Jahre konnte ein Rückgang vieler Gletscher nachgewiesen werden. Dies ist nicht nur ein Problem in Tirol, sondern ein Phänomen, das sich vor allem in Zentraleuropa immer deutlicher und dramatischer zeigt. Für das gewaltige Schrumpfen der Eismassen gibt es eine Vielzahl an Ursachen, wie beispielsweise den Treibhauseffekt und das sich erwärmende Klima. Auch wenn viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überlegen, wie die Gletscherschmelze aufgehalten werden kann, so freuen sich die Archäologinnen und Archäologen über das, was darunter zum Vorschein kommt. Stadler erzählt, dass etwa in Südtirol am Ortler einiges gefunden wurde: „Es gibt dort schon tolle Befunde. Die Kollegen und Kolleginnen dort erwarten aber noch etwa 4000 Mumien, die das Eis noch freigeben wird. Da ist noch einiges zu tun. Es sind im ersten Weltkrieg viel mehr Soldaten durch Unfälle und Winterkatastrophen zu Tode gekommen, als durch die eigentlichen Kampfhandlungen.“ Durch die speziellen Lagerungsbedingungen im Eis erhalten sich beinahe alle Materialien aus pflanzlichen Substanzen, wie Leinen, Baumwolle und Holz, ebenso wie Produkte tierischen Ursprungs aus Wolle, Seide, Haaren, Horn oder Leder bis hin zu kompletten tierischen Kadavern und menschlichen Individuen. Die Eisleichen bilden durch die Gefriertrocknung bzw. Fettwachsbildung eine Art biologischen Tresor, der mit Hilfe moderner Ermittlungen geknackt werden kann. Wertvolle Daten wie etwa Spuren von DNA können so gewonnen werden. Die Bergung und Untersuchung der gefundenen Leichen vor Ort ist jedoch besonders schwierig und erfordert einen hohen logistischen und organisatorischen Aufwand. Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bleibt nur ein kurzes Zeitfenster von etwa zwei bis drei Monaten, um die Fundstücke in der schneefreien Zeit bergen zu können. Stadler und sein Team kämpfen derzeit mit einem sehr gefährlichen Problem: „Die Flächen, die wir momentan im Fokus haben, sind zu steil, sodass es ab Mittag lebensgefährlich wird, Untersuchungen durchzuführen. Durch das Auftauen der Steinplatten sind wir der Gefahr ausgesetzt, dass diese jederzeit abbrechen können und das, was wir untersuchen wollen, unter sich begraben.“ Die Archäologinnen und Archäologen müssen allerdings auch noch mit anderen Herausforderungen bei der Bergung zurecht kommen. „Wir arbeiten bei Funden intensiv mit Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Fachrichtungen wie beispielsweise der Glaziolologie, Botanik, Gerichtsmedizin oder Zoologie zusammen. Besonders wichtig bei Bergeaktionen ist die Kooperation mit der Bergrettung. Alle Beteiligten in diesem kurzen Zeitfenster zusammen zu bringen, ist jedoch sehr schwierig“, erläutert Stadler. Die Gletscher halten für historische und naturhistorische Wissenschaften wichtige Quellen bereit. Der neue Zweig innerhalb der Archäologie, die Gletscherarchäologie, gewinnt immer mehr an Bedeutung, da gerade die Schriftquellen über die Tätigkeiten des Menschen in der hochalpinen Eisregion nahezu stumm seien.

Originalfoto aus dem Jahr 1929 vom Fund der Gletscherleiche des Wilderers Norbert Mattersberger vom Gradetzkees in Osttirol. (Foto credit: Harald Stadler)

Originalfoto aus dem Jahr 1929 vom Fund der Gletscherleiche des Wilderers Norbert Mattersberger vom Gradetzkees in Osttirol. (Foto credit: Harald Stadler)

Die Gletscherleiche des „Wilderer“ in Osttirol

Abseits des Ötzi-Hypes erinnerte sich Harald Stadler an einen noch ungeklärten Fund aus dem Jahr 1929. In Osttirol am Gradetzkees in Kals wurde eine männliche Leiche entdeckt. Der Polizeibericht zu diesem Fund beschränkte sich auf eine fünfzeilige Kurzbeschreibung und ein Foto, das die Mumie unmittelbar vor der Bergung zeigt. Dem Individuum fehlt laut Foto, das gleichzeitig der einzige dokumentarische Beweis ist, der Kopf sowie der rechte Unterschenkel. Die Polizei sammelte damals eine Reihe von Gegenständen ein, die der noch Unbekannte bei sich trug. Gefunden wurden ein Gewehr, das für die damalige Zeit ungewöhnlich modern war, ein Taschenmesser, ein paar Kugeln und Knöpfe. „Um das Puzzle zusammenzusetzen, steckt besonders viel Recherchearbeit dahinter. Ich habe das Foto dann zum Sprechen gebracht“, so Stadler. Das Foto und die gefundenen Gegenstände sprechen insofern, als dass sie eine spannende Geschichte erzählen. „Im Jahr 1839 wurde Norbert Mattersberger aus Matrei in Osttirol als vermisst gemeldet, als er von einem Ausflug in die Berge um Gämsen zu jagen, nicht mehr zurückkehrte“, erzählt der Archäologe. Da Mattersberger als Knecht eigentlich nicht jagen durfte, wird die Mumie nun als der „Wilderer“ bezeichnet. Der Bergungstrupp von 1929 entdeckte zudem eine Taschenspindeluhr aus Silber bei der Mumie. Laut den Recherchen von Stadler wurde diese Spindeluhr damals von der Familie des Toten als Belohnung für denjenigen ausgesetzt, der den Vermissten findet. Mehrere Suchaktionen blieben allerdings erfolglos. Dieses relativ junge Beispiel einer Gletscherleiche ist exemplarisch für die Rekonstruktion eines Einzelschicksals, das durch die Interpretation vieler einzelner Indizien klarer geworden ist. „Und so versucht man das kriminalistische Rätsel laufend zu ergänzen, um dann zu nachvollziehbaren Interpretationssträngen zu kommen. Es ist immer ein Kriminalfall – und da wird unsere Arbeit zu einer Tatortarchäologie“, erklärt Stadler. Der Wissenschaftler betont, dass die Archäologie damit nicht mehr nur reine Wissenschaft bleibt, sondern auch gesellschaftsfördernd sei. „Für uns ist es wichtig, dass wir auch bei der Gesellschaft ankommen, denn die Funde und ihre Interpretation sind Teil ihrer Geschichte“, betont der Archäologe.

Das „rote Telefon“

Harald Stadler erklärt, dass eine intensive Kooperation zwischen den potenziellen Findern am Berg und den Archäologinnen und Archäologen unumgänglich sei. „Wir sind davon abhängig, dass es jemanden gibt, der einen Fund beim Denkmalamt, bei uns oder der Polizei meldet“, so der Wissenschaftler. Am Gletscher bewegen sich hauptsächlich Bergsteiger, die Alpinpolizei, das Bundesheer im Rahmen von Ausbildungen, Mineraliensucher oder Glaziologen. Ein grundsätzlicher Alarmplan für Funde aus diesem Metier muss in Österreich erst noch entwickelt und gepflegt werden, wofür sich Stadler besonders einsetzt. „Mir ist es wichtig, alle Beteiligten stetig zu informieren und miteinzubeziehen. Wir dürfen in unserer Forschung nicht vergessen, dass wir von diesen Leuten, die uns die Dinge zutragen, abhängig sind. Um die muss man sich kümmern und das möchte ich auch tun“, verdeutlicht der Archäologe. Eine intensive Zusammenarbeit sei auch Dank des digitalen Zeitalters möglich geworden. Schnell kann ein Bild an den Experten geschickt werden und dieser bewertet am Handy die Qualität des Fundes. „Leider musste ich von meinem alten Handy Abschied nehmen, weil das diese Bildgrößen nicht mehr verarbeiten kann – aber das ist es mir wert!“, erzählt Stadler begeistert.

Summer School für Gletscherarchäologie und Mumien

In einem Universitätskurs können Studierende detaillierte Einblicke in dieses spezielle Gebiet der Archäologie erhalten. Eine Kooperation zwischen der EURAC in Bozen und der Universität Innsbruck macht den Kurs zu „Mummies & Glacial Archeology“ möglich. Angesprochen werden Absolventinnen und Absolventen naturwissenschaftlicher Masterstudiengänge, die Interesse an Gletscherarchäologie sowie der interdisziplinären Mumienforschung haben. Stadler kann bereits auf erfolgreiche Kooperationen mit Südtirol, besonders mit Hubert Steiner vom Amt für Bodendenkmäler und Albert Zink von der EURAC in Bozen sowie Thomas Reitmaier vom Archäologischen Dienst Graubünden zurückblicken. Dem Wissenschaftler ist es wichtig, Interesse und Lust für diesen speziellen Bereich zu wecken. „Wir brauchen gut ausgebildete Leute, die mit den kommenden Funden sicher umgehen können“, betont Stadler. Dem Experten ist es wichtig, ein komplettes Paket an wissenschaftlichen Kenntnissen zu vermitteln, das für den Umgang mit Mumien und ihren Beifunden notwendig ist. „Nur mit der Unterstützung der Universität ist ein so praxisnahes, wissenschaftliches Arbeiten möglich“, freut sich der Archäologe.

*Source: Universität Innsbruck

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